Vincenz Kokot – "Ich mag die Rolle des Amateurs"                                                                                       Podcast "such a wolf!" von wolvesinsound, Berlin                                                                                       (Transkription des Interviews), Januar, 2016

Ende 2015 war der Musiker Vincenz Kokot (my sister grenadine, Polaroid Liquide) in unserem Tonstudio wolvesinsound zu Besuch. Wir haben uns vor Jahren im engeren Umfeld unseres Netzwerkes rund um das Leipziger Label Analogsoul kennengelernt. Im Gespräch mit Daniella Grimm erzählt Vincenz von seinem Umgang mit Zeit und Zeitdruck, den Herausforderungen der Arbeit im Tonstudio im Unterschied zu denen von Live-Performances, den Möglichkeiten künstlerischen Schaffens innerhalb und außerhalb der herrschenden gesellschaftspolitischen Strukturen sowie von seinem ersten, 2015 beim secession Verlag erschienenen Lyrikband "Löschpapier". Wir kommen einem vielseitigen Künstler näher, der in unterschiedlichen Projekten und Kooperationen nach verschiedensten Ausdrucksformen sucht und dabei gerne auch in die Rolle des Amateurs schlüpft. Vincenz Kokot trägt außerdem zwei seiner Gedichte vor und spielt bisher unveröffentlichte, neue Songs exklusiv live für uns ein.

Wir haben gerade den Song "the island" von my sister grenadine gehört, der 2013 auf dem Album "spare parts" erschienen ist. Für mich ist der Song voller Bilder und Skizzen und Geräuschen. Ich fühle mich durch den Song gleich auf die Insel geholt. Ich hab es auch lang nicht gehört. Es war sehr interessant, es nochmal zu hören und auch selber ein bisschen weggetragen zu werden.

Also das passiert Dir tatsächlich mit Deinen eigenen Songs? Also jetzt wirklich, weil ich das so lange nicht gehört hab von der Aufnahme her, konnte ich es ein bisschen wie von Außen betrachten und dachte: Ah ja, interessant, da ist so ne Bewegung drin, die einen auf jeden Fall mitnimmt.

Wenn Du Deine eigenen Songs hörst, kommst Du dann tatsächlich auch in eine andere Welt, oder kommen dann eher Erinnerungen an die Zeit, in der ihr an dem Album gearbeitet habt, hoch? Beides. Es gibt sowohl Erinnerungen an die Zeit im Studio, als wir es aufgenommen haben, es gibt Erinnerungen daran, wie der Text entstanden ist, dann über den Text wieder, was hat den Text inspiriert, welche konkreten Begebenheiten, die dann nochmal ne ganze Weile vorher passiert sind. Und dann auch irgendwie das Lied an sich, fast unabhängig von dem, was ich oder was wir da kreiert haben, wie wirkt das Lied, das „fertige Produkt“, als etwas Eigenständiges auf mich, fast von Außen.

Und ist das möglich? Ja, ein bisschen (lacht), partiell möglich, teilweise möglich, oder für Momente möglich. Interessant auf jeden Fall, das mal wieder zu hören mit so viel Zeit dazwischen.

Hängt das mit der Fähigkeit zusammen, loslassen zu können, dass der Song vielleicht gar nicht mehr so sehr Dein oder euer Produkt ist, sondern dass er eine ganz große Eigenständigkeit besitzt? Ja, auf jeden Fall. Das passiert sowieso in vielen Momenten. Ich glaube auch, wenn Du so eine Platte fertig hast, dann ist das irgendwie so, dann verändert der Song sich ja auch live beinah eigenständig, auch wenn die Musiker_innen das spielen. Ich finde, das ist fast schon wie eine eigene Person, mit der man verbunden ist, die man auch gut kennt, bei der es aber trotzdem eine gewisse Schnittmenge gibt, was man nicht so gut kennt oder was im Moment passiert. Doch, ich finde das voll schön, ich finde das auch voll wichtig. Es würde sich total seltsam anfühlen, wenn das nicht auch was Eigenständiges hätte.

Und auch zu dicht dran wäre an Dir, in dem, was Du gerade erlebst? Ja, auf jeden Fall.

Das heißt, Songs haben auch das Potential, Dich zu begleiten und Dir Sicherheit oder das Gefühl von Außenbetrachtung auf Dich selbst zu schenken, eine Spiegelung zu sein? Über Sicherheit denke ich tatsächlich selten nach. Ich glaube, mit Songs ist es auch nochmal sehr entscheidend, ob das die eigenen Songs oder ob das Songs von anderen Menschen sind. Und es auch noch mal bei einem Song voll wichtig, ob man das live spielt oder ob das aufgenommen ist. Also ehrlich gesagt, die Musik, die ich komponiere, höre ich mir, wenn die fertig aufgenommen ist, sehr selten nochmal an. Die Arbeit an einem Album ist sehr intensiv, dann aber abgeschlossen - ich habe oft eher eine Verbindung mit den Live-Performance von Songs. Bei den eigenen Liedern habe ich in letzter Zeit öfter mal gedacht, dass die Texte auf mich nochmal ganz anders wirken. Auf Englisch sagt man "backfire", they fire back at me, aus so einer Dynamik, die ich vorher nie für möglich gehalten habe. Vielleicht wie bei Personen, die Du triffst und dann sind die in einem ganz anderen Kontext oder haben sich voll verändert oder man selbst hat sich voll verändert, man nimmt sie dann anders wahr.

Aber es ist kein „shot in the back“, oder passiert das auch manchmal? Nein, eher aus so einem ungewöhnlichen Winkel erwischen sie mich dann nochmal und dann auch wirklich viel später. Musikalisch weiß ich gar nicht, da müsste ich nochmal in Ruhe drüber nachdenken. Ich mag bei diesem Lied, das wir grad gehört haben, auch sehr gern die Aufnahme, ich mochte auch die Zeit, wo wir das aufgenommen haben im Studio. Es war sehr schön, wie wir alle zusammengearbeitet haben.

Kannst Du kurz sagen, wer "wir" eigentlich sind? Mit Felix Koch und Angelina Kartsaki ist das aufgenommen und Aufnahmemensch war Nikola Jeremic, der jetzt nicht mehr in Berlin wohnt, aber damals im Studio in Treptow viel gearbeitet hat. Mit ihm haben wir „spare parts“ und das Album davor aufgenommen.

Und die Erinnerungen an diese Zeit, die Du offensichtlich auch sehr genossen hast, kommen jetzt nochmal hoch? Ja, das war ein sehr arbeitsamer Monat, weil wir wirklich einen engen Zeitplan hatten und erst sehr viel aufgenommen haben, sehr viel gemischt haben und gleichzeitig noch Artwork und die ganze Release-Vorbereitung gemacht haben - und die Tour auch noch. Keine Ahnung, wie wir das alles auf die Reihe bekommen haben damals. Es gibt auch beim Aufnahmeprozess im Studio immer Songs, bei denen funktioniert alles sofort, meistens auch Songs, wo Du das gar nicht so erwartet hast und andere Lieder, wo Du denkst, ja das nehmen wir jetzt schnell auf, die sind dann viel arbeitsintensiver als Du denkst. Und „the island“ war ein Lied, das aus meiner Erinnerung total smooth geklappt hat bei der Aufnahme und dann auch schön beim Mischen klang.

Nehmt ihr zusammen auf, wenn ihr im Studio seid oder über Overdubs? Damals war es so, dass wir einen Großteil jeweils einzeln aufgenommen haben, weil es auch platzmäßig nicht anders möglich war. Es gab aber auch einen Teil der Aufnahmen, die parallel waren, es ist jetzt aber schon drei, vier Jahre her, darum bin ich gerade ein bisschen überfragt. Wir haben auf jeden Fall die vocals immer einzeln aufgenommen. In Gesangskabinen stehen und singen, fand ich immer sehr schwierig, weil das ja so ganz schallgeschützte Orte sind, wo es sehr nackt ist, wenn man singt, wo es keinen natürlichen Hall gibt und auch kaum tonale Unterstützung. Daran erinnere ich mich, aber wir haben viel einzeln aufgenommen und das dann zusammengefügt.

Bist Du grundsätzlich gern im Studio? Macht Dir diese Arbeit Spaß? Es ist sehr ambivalent. Ich finde es paradox, dass man versucht, Musik festzuhalten, weil ich denke, dass es etwas ist, das sehr im Moment entsteht und was sehr auf den Kontext ankommt oder auf eine Reaktion oder einen Austausch sowohl zwischen den Menschen, die die Musik machen als auch mit denen, die zuhören. Musik aufzunehmen, ist so etwas Lebendiges und Freies einzufangen und für einen längeren Zeitraum zu konservieren, was aus meiner Sicht der Musik an sich widerstrebt. Ich muss dann immer an Blixa Bargeld denken, der mal gesagt hat „Studio ist das Gegenteil von Musik oder Studio ist der Tod von Musik“. Gleichzeitig ist es natürlich total spannend: Was kann man überhaupt aufnehmen, what is possible to capture und was kann man alles im Bereich Produktion machen, also wohin kann man Musik mit den Möglichkeiten, die ein Studio bietet, bringen? Das ist total vielfältig und das wiederum finde ich toll und es macht mir Spaß damit zu arbeiten, mich da mit Menschen auszutauschen, die viel Ahnung davon haben.

Gerade diese Freiheit, die die Songs auf Tour oder in den Konzerten haben, sich zu entwickeln und auch vielleicht neue Gesichter zu tragen, die ist im Studio dann relativ klein. Du hast ja offensichtlich schon eine größere und zentralere Vision für die Zeit im Studio, wie Du den Song festhalten möchtest. Es gab auf jeden Fall pro Platte Konzepte, wie das Album klingen soll oder wo es ungefähr hingehen soll. Natürlich muss man sich dann irgendwie festlegen. Wenn das produziert wird und vervielfältigt wird, gibt es so etwas wie eine finale Vision oder zumindest in dem Moment festgehaltene Version. Live ist das natürlich anders oder man kann auch sehr verschiedene Variationen und Versionen von Liedern machen. Das finde ich auch ein sehr spannendes Feld. Bei Sprache - dieses Jahr habe ich ein Buch mit Gedichten veröffentlicht - finde ich es auch ganz schwierig, einen Text so abzuschließen, dass der dann so gedruckt wird und das ist dann der Text und das ist dann das Buch. Bei Sprache, finde ich, ist diese Abgeschlossenheit noch viel größer vorhanden als bei Musik. Damit habe ich irgendwie immer ein Problem gehabt.

Ist es Dir manchmal auch passiert, dass Du live gemerkt hast, so ist der Song nochmal ganz anders und schade, dass der nicht so aufs Album gekommen ist? Ich habe eher oft gedacht, dass es total spannend wäre, ein Album zu machen, wo man die Lieder sehr früh aufnimmt, sehr nah am Moment der Komposition dran und von mir aus auch sehr rauh von der Aufnahmeweise. Und dass man dann zu einem späteren Zeitpunkt ein Album macht mit Liedern, die sehr lange in so einem Prozess waren, die sehr produziert sind, die live vielleicht gar nicht so reproduzierbar sind und dass man sich dann diese zwei Ergebnisse anguckt.

Hat nicht Glenn Gould das mal gemacht? Er hat in sehr jungen Jahren Aufnahmen von einem Musikstück gemacht und dann später im Alter nochmal. Da hat sich ganz viel von ihm selbst gezeigt, wie er sich als Person verändert, mit Tempo und Zeit ganz anders umgeht, mit Verzierungen vielleicht eher sparsamer wird. Das kann ich total nachvollziehen. Dass sich zum Beispiel Dein Tempo verschiebt oder dass Deine Ausschmückungen und Details sich verändern, das kann ich bei mir sehr vergleichen. Zum Beispiel sind die Lieder, die ich jetzt schreibe, viel länger als die Lieder, die ich vor ein paar Jahren geschrieben habe. Das letzte Album mit my sister grenadine war zum Beispiel von so einer ganz bestimmten Hektik, von einer Welt geprägt, in der es permanent Druck gibt, also die Welt, in der wir leben. Die Lieder, die ich jetzt schreibe, wo ich die letzten Monate oder Jahre ein bisschen mehr Freizeit hatte, da merke ich, dass sich das auch in der Rhythmik der Musik ausdrückt oder einfach in der Länge der Lieder. Für Live hat es natürlich auch sehr viel mit den Personen zu tun, mit denen man das aufführt und mit den Orten, an denen man spielt. Wir haben zum Beispiel sehr viele akustische Konzerte gegeben, die darum irgendwie auch überall möglich waren, also von Wohnzimmer, über Café bis Club oder Theater, eigentlich alles. Allein das bringt Dich in völlig verschiedene Kontexte, wo das, was Du dann da tust, jeweils eine Variante von dem ist, was Du aufführen möchtest.

Ihr seid ja ganz viel auf Tour gewesen und habt nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien, in Österreich und in der Schweiz ganz viele Orte bespielt, unterschiedlichste Menschen in verschiedenen Kontexten getroffen. Ist das so eine Zeit, wo Du auch gerade für Deine Texte Stoff sammelst oder Beobachtungen machst, Deine Alltagspoesie findest und Bilder sammelst? Ich glaube, dass ich immer wie ein Schwamm funktioniere, der alles aufsaugt. Sowohl Alltag, als auch Tour, bei beiden mache ich das. Tour ist ein sehr spezifischer Zustand, Du hast so eine Routine, aber Du hast nicht so einen Alltag, wie Du ihn sonst hast. Mir ist, glaube ich, sehr bewusst geworden, dass durch den Fakt, dass ich Musik mache, sich sehr viele Räume oder Begegnungen überhaupt erst ermöglichen. Diesen Sommer habe ich zum Beispiel auf einem Tanzfestival Musik gemacht. Da gab es auch so einen Schlüsselmoment, wo ganz viele Leute in einem riesigen Raum verschiedene Tanzbewegungen in Gruppen aufeinander zu und wieder voneinander weg gemacht haben. Das war eine sehr ausdrucksstarke Situation und mehrere Musiker_innen haben dazu gespielt und alle haben das voll aus sich rausgelassen, was da gerade passiert. Und auf einmal macht mein Kopf klick und ich habe gedacht, wie geil ist das denn hier und würde ich nicht Musik machen, würde ich das gar nicht erleben können. Das sind Momente, wo ich ganz dankbar bin.

Möchtest Du an den Orten, an denen Du sicherlich intensive Begegnungen, viel Austausch hast, gerne länger bleiben, auch wenn der Tourplan Dich an andere Orte, zu anderen Menschen führt? Ich glaube tatsächlich, dass ich das mag, dass man weiterfahren muss. Ich mag diese Reisebewegung und ich finde es irgendwie auch interessant, dass man nicht bleiben kann. Natürlich nimmt man das oft erstmal als Mangel oder Negativität wahr, von wegen, ich würde gerne bleiben, aber es geht nicht. Aber ganz oft denke ich auch, ah, das ist interessant, wir gehen jetzt und es ist wie so ein Schnitt wie in einem Film, die Szene ist jetzt erstmal vorbei. Du nimmst es ja trotzdem mit, es ist ja nicht weg, nur weil Du geographisch weg bist. Aber durch diese Notwendigkeit, dass Du am nächsten Tag an einem nächsten Ort sein musst, gibt es diese Schnitte, diese Brüche. Und das genieße ich, weil sonst hat man solch spezifische Situationen eher weniger.

Sind es immer Brüche oder ist es auch ein Verschieben? Denn Du hast ja auch die langen Fahrten und einerseits Zeitrdruck aber irgendwie andererseits auch Zeit, um das Warten auszuhalten oder auch zu genießen. Verschiebungen ist auch ein Wort, das mir dazu einfällt. Dazu kommt, dass wir auch viele Orte mehrmals besuchen, so dass Du dann die Leute zwei Jahre später wieder siehst oder dass Du Email-Kontakt hast oder die kommen nach Berlin, weil viele Veranstalter sind ja selber auch Musiker_innen. Es ist dann gar nicht so linear mit der Zeit. Den Eindruck habe ich generell, dass dieses Konzept von linearer Zeit sowieso meistens Quatsch ist, wenn man sich das genauer ansieht. Ich mag tatsächlich auch diesen Moment, wo Du irgendwo aufwachst, wo Du selten bist oder vielleicht noch nie warst und denkst, ja krass, heute Abend werde ich wieder irgendwo pennen, wo ich noch nie war. Gleichzeitig entstehen natürlich, wenn man regelmäßig unterwegs ist, zu bestimmten Leuten auch Beziehungen und Verbindungen, mit denen ist man dann in Kontakt. Das sind dann anders strukturierte Freundschaften oder Bekanntschaften oder Beziehungen und auch das ist wieder sehr verschieden zu einem Alltag an einem Ort. Für mich ist es oft eher das Zurückkommen oder das Wieder-In-Die-Vorher-Bekannte-Struktur-Zurückkommen problematisch. Auch das Auf-Tour-Sein ist ein sehr spezifischer Zustand. Man hat einerseits einen sehr stark reglementierten Zeitplan und einen gewissen Zeitdruck, andererseits gibt es sehr viele freie Zeiträume, die mit Warten und auch einer Form von Langeweile oder Diffusität aufgefüllt sind, mit denen man auch umgehen muss. Das ist irgendwie eine Art Herausforderung. Ich habe das immer mit so einem „U-Boot-Gefühl“ beschrieben, denn man ist unterwegs, man nimmt voll viel auf, aber man ist auch irgendwie in so einer Blase oder in so einem Boot iunter Wasser, ist halt auf seiner „Mission“ und es gibt mal ganz viel zu tun und mal hängt man nur so rum. Es ist ein ganz komischer Zustand. Es ist jetzt aber auch schon eine ganze Weile her, dass ich auf Tour war. 2013 war das letzte Jahr, wo wir mit my sister grenadine auf Tour waren. Und ich vermisse das so ein bisschen, auf Tour zu sein und vielleicht glorifiziere ich das jetzt auch schon ein bisschen. Aber ich glaube, ich war oder bin immer jemand, der das sehr mag, unterwegs zu sein, auch wenn es anstrengend ist - es ist für mich eher seltsam, wenn man so ein sesshaftes Leben hat, wo man an einem Ort, an einem meist gleichen Ort, meist den gleichen Alltag und die gleiche Routine hat.

Ich möchte noch einmal auf das Thema Zeit, Zeitdruck und damit zu Deinem Lyrikband "Löschpapier“ zu sprechen kommen. Der Titel hat mich inspiriert, denn das Löschpapier nutzen wir, um Tinte vor dem Verwischen, dem Zerlaufen zu hindern. Gleichzeitig sorgt es aber auch dafür, dass die Tinte nicht so tief in das Papier eindringen kann und die Dauerhaftigkeit dessen, was wir mit Tinte schreiben nicht ganz so intensiv ist, wenn wir sie mit Löschpapier löschen. Ich frage mich, ob das Wort "Löschpapier" für Dich ein Sinnbild für Deinen eigenen Umgang mit Zeit und Dauerhaftigkeit darstellt. Interessant, was Du zum Titel sagst. Für das Buch ist der Titel erst sehr spät entstanden, eigentlich erst kurz bevor ich das finale Manuskript zum Verlag gegeben habe. Natürlich gibt es auch für mich Deutungen von „Löschpapier“ als Titel. Zum einen die Paradoxie, dass Du über einen Text etwas festlegst, zumindest relativ final machst und andererseits, dass man über diesen Gedichtband oder über die Texte, die dort abgedruckt sind, auch etwas anderes verschwinden lässt, was vielleicht vorher das Finale war. Oder auch die Doppeldeutigkeit des Begriffes von löschen, dass wir einerseits etwas auslöschen als etwas sehr negatives und gewaltvolles kennen und andererseits so etwas wie Durst löschen oder Feuer löschen eher positiv besetzt ist. Tatsächlich gibt es das Wort für ein ganz konkretes Objekt, was mich auch fasziniert hat. Das alles zusammen hat den Titel erzeugt. Die komplette Durchdringung, warum das der Titel für das Buch sein muss, kann ich selber auch gar nicht liefern. Aber irgendwie weiß ich, in dem Moment, wo das Wort da stand, hat es Sinn gemacht. Es ist auch ein sehr heterogenes Buch, es war sehr schwierig, einen Titel zu finden, der für alle Bereiche des Buches mit zutrifft. Darum habe ich auch lange keinen Titel gehabt und als es dann auftauchte, hat es „klick“ gemacht.

Wie gehst Du selbst in der heutigen Zeit mit dem Thema Zeitdruck, etwas produzieren zu müssen, Output haben zu müssen, beim Arbeiten um? Es ist natürlich sehr divers. Die Songtexte für die Lieder, die jetzt vor allem bei my sister grenadine bearbeitet wurden, sind immer sehr nah an den Kompositionen entstanden. Für jedes der Alben gab es einen bestimmten Zeitraum, in dem das stattfand, in dem sowohl die Inspiration war als auch die Aufnahme und dann die Aufführung. Beim zweiten Album gab es so eine bestimmte Atmosphäre, einen vibe, bei den anderen Alben auch. Bei den Texten im Buch ist es ein bisschen anders, weil ich ganz lange das Schreiben von Gedichten auf deutsch „nebenbei“ gemacht habe oder zumindest nicht so sichtbar oder nicht so öffentlich. Das sind tätsächlich Texte, die über einen viel längeren Zeitraum entstanden. Ich habe auch sehr viel nicht reingenommen und sehr viel aussortiert, aber es sind Texte über einen Zeitraum von fast zehn Jahren.

Wenn die Gedichte über einen so langen Zeitraum entstehen, geht es Dir bei all diesen Gedichten dann so, dass Du die Sinnhaftigkeit der Aussagen auch heute noch spüren kannst? Denn Du hast Dich ja im Verlaufe der Jahre auch verändert und betrachtest manche Dinge vielleicht anders. Die Texte haben sich auch in der Zeit verändert und ich habe natürlich auch nur Texte ausgewählt, mit denen ich jetzt auch noch eine Relation habe. Ich glaube, was das Thema Zeitdruck und Produktion angeht, ist das bei my sister grenadine stärker präsent, weil die Musik eben sehr lange mein Hauptfeld war oder das, womit ich am meisten nach Außen gegangen bin und wo auch als Reaktion am meisten gekommen ist. Da gab es natürlich einen ganz anderen Zeitdruck und "Produktionszwang" und bei den Sachen die man "unsichtbar" macht, die sind dann ein bisschen anders gelagert. Ich würde sagen, die sind nicht total frei von einem Zeitdruck, aber die stehen weniger in einem öffentlichen Licht und dadurch kann man vielleicht auch ein bisschen weniger Druck spüren, wenn man die schreibt. Ich glaube, ganz allgemein ist es sehr interessant, dass es heutzutage total wichtig ist, dass jede_r Künstler_in, egal auf welchem Feld oder in welchem Medium darauf angewiesen ist, etwas zu produzieren. Ich glaube, es ist fast nicht möglich, einfach nur Lieder zu schreiben, sondern jeder brauch CDs und jeder braucht Aufnahmen, die dann wieder verkauft werden können etc.. Ich habe auch mal eine Weile versucht, mir vorzustellen, ob es produktionslose Künstler_innen in einer kapitalistischen Welt überhaupt geben würde oder wie sie wahrgenommen werden würden. Es ist fast ausgeschlossen in dem gesellschaftlichen Kontext, in dem wir leben. Es ist ganz normal und selbstverständlich, dass wir permanent Sachen produzieren.

Oder zumindest auch vorgeben, dass wir gerade produzieren. Denn gerade in den social media geht es ja besonders auch um das Vorgeben, wir wären produktiv, auch wenn es vielleicht gar nicht der Tatsache entsprechen würde oder Du eben auch gerade gar nicht produktiv sein willst. Ja, kein virtuelles oder materielles Produkt am Ende darzustellen und ein_e Künstler_in, die einfach nichts produzieren würde, zu sein, das wäre ein recht radikaler Ansatz (lacht). Ich bin gar nicht sicher, ob jemand, der den Markt nicht bedient, überhaupt lesbar wäre. Ganz abgesehen davon, dass es natürlich ökonomische Konsequenzen hat.

Wahrscheinlich bestünde auch die Gefahr, dass die Künster_in selbst produziert wird, wenn sie sich den Raum nimmt, ihre Unproduktivität sichtbar zu machen. Ja, das Image des Produktes. Es ist sehr schwierig, sich jenseits von dieser Vermarktungslogik zu befinden und nicht vereinnahmt zu werden. Daher muss man schon klar sagen, auch ich oder wir waren da in den Umständen, in denen alle sind und es gab auch immer Diskussionen darüber, dass man sich an einem Limit von Geschwindikeit und Selbstausbeutung, von Arbeit bewegt. Dass man immer Lieder schreibt, zusammen Arrangements macht, das aufnimmt, eine Tour bucht, auf Tour geht, zurück ist, die ganze Arbeit, die damit verbunden ist etc. und das auch über einen längeren Zeitraum. Und das auch als das normal Gesetzte, obwohl das eigentlich ja nicht „normal“ ist, weil man dann irgendwann so einen starken Erschöpfungszustand erreicht, dass man das gar nicht mehr leisten kann. Es ist schwierig, sich da irgendwie noch halbwegs autonom zu bewegen. Es gibt meistens nur Phasen von einer manischen Vielmacherei und dann gibt es den Zusammenbruch und dann geht es wieder von vorne los. Aber auch in diesem Zusammenhang „jenseits“ der Verhältnisse zu sein oder andere Formen von künstlerischer Arbeit oder Arbeit allgemein zu etablieren, innerhalb der Gesellschaft wie sie jetzt strukuriert ist oder in dem System, in dem wir gerade leben, das ist, glaube ich sehr schwierig zu erreichen.

Wie schätzt Du Dich da in Deiner Widerständigkeit ein? Einmal glaube ich, dass sich eine andere Praxis, wie ich sie in den letzten zwei Jahren versucht habe, zu etablieren, automatisch unterbewusst auf Dich auswirkt und sich auch auf Deinen Körper einschreibt – also dass man zum Beispiel Lieder macht, die länger sind. Andererseits habe ich die Frage für mich bisher noch nicht wirklich beantwortet, wie man anders künstlerisch arbeiten kann als mit dem Tempo und der Art und Weise, wie ich das bisher gemacht habe. Ich spreche einfach viel mit Leuten darüber, was da Lösungen sein könnten und hole mir viele Eindrücke und teile meiner Eindrücke. Darauf habe ich aber jetzt noch keine abschließende Antwort. Und außerdem kann es schon einen Sogeffekt geben, so dass man wieder in die alte vorhandene Struktur oder die vorgegebenen Dynamiken reinrutscht. Ich glaube, dass die Praxis entscheiden wird, wie die nächsten Jahre, was die nächsten Schritte sind.

Und das Wissen um die Möglichkeit eines "Rückfalls" fand ich gerade sehr wichtig. Genau, denn die Strukturen haben sich ja nicht oder nur geringfügig verändert. Rückfall ist vielleicht: Man geht raus in die Welt und da sind die vorhandenen Strukturen. Wenn man anfängt, sich innerhalb derer zu bewegen, ist es der Fakt, wie und in welcher Geschwindigkeit man bestimmte Dinge machen sollte. Und darum entsteht eher die Frage, wie können wir es schaffen, andere Produktions- oder Arbeits- oder Herangehensweisen zu etablieren. Das ist sehr schwierig.

Du arbeitest ja in vielen anderen musikalischen Projekten. Gibt es dort den Raum für solche Fragen, wie gehen wir in den Prozess, wie wollen wir zusammenarbeiten? Zum einen suche ich das Gespräch mit Leuten, mit denen ich schon lange zusammenarbeite. Zum Beispiel mit Felix Koch, mit dem ich bei my sister grenadine viele Jahre zusammengearbeitet habe. Mit ihm spreche ich darüber und werde demnächst auch ein Gespräch nur zu diesem Thema haben, weil es natürlich sehr abstrakt ist, aber auch konkret unser Leben betrifft. Auf den Feldern, wo ich "rumexperimentiere", gehe ich erstmal ganz anders an die Sache ran, weil ich mich da sehr oft als Amateur wahrnehme, der einfach mal guckt, was so passiert. Zum Beispiel mache ich seit einigen Monaten Musik für improvisierten Tanz, für Contact Improvisation, und es ist eigentlich mehr oder weniger durch Bekanntschaften und Zufälle so entstanden, obwohl mich das natürlich auch vorher schon interessiert hat, ich aber noch keinen Zugang oder noch keine Zeit dafür hatte. Da lasse ich das viel mehr auf mich zukommen und gucke, was ist möglich und wie kann ich mich einbringen, obwohl ich gar nicht Teil dieser Szene bin oder zumindest sehr neu bin.Wie kann ich künstlerische Sachen machen, die ich eigentlich gar nicht kann, aber die trotzdem irgendwie funktionieren. Das ist erstmal ein Rumexperimentieren und weniger ein sich mit Leuten darüber austauschen. Sobald die Sachen aber konkreter werden und zum Beispiel Projekte werden, an denen viele Menschen beteiligt sind, die alle irgendwie künstlerisch arbeiten und man gemeinsam planen muss oder wenn man dann Anträge schreibt oder wenn man einfach guckt, ob wir ein Stück weit davon leben können, dann stellen sich die gleichen Fragen, die es bei my sister grenadine oder im Literarurbetrieb auch gibt. Zum einen glaube ich, dass es mich künstlerisch sehr interessiert, verschiedene Sachen zu machen und dass es vielleicht auch auf einer ökonomischen Ebene gut ist, wenn es verschiedene Standbeine gibt. Man muss das immer mit allen Leuten abstimmen, die ja auch alle ganz viel machen und auch alle ihre Miete bezahlen müssen. Irgendwie sitzen wir alle im gleichen Boot und es ist die Frage, ob man sich solidarisch verhält oder unsolidarisch agiert.

Jetzt wird für mich noch mal deutlich, wie wichtig Dir die gesellschaftspolitische Relevanz Deiner Arbeit ist. Die Veränderung alter oder Schaffung neuer Strukturen bedeutet dann ja viel zusätzliche Arbeit für Dich. Du bist also nicht "nur" Künstler, sondern auch ein Aktivist, der was bewegen will. Ich hoffe zumindest, dass wir Möglichkeiten finden, weil es strukturell wenig Platz gibt und ich jetzt auch keine Antworten oder eindeutige Perspektiven habe. Ich hoffe halt immer, dass sich in dem Dialog oder in der Praxis Sachen eröffnen und da agiere ich mit so einem wachen Fragezeichen-Blick und bin auch immer offen für die Erfahrungen anderer Leute oder wie die verschiedenen Szenen verschieden gelagert sind. Bei my sister grenadine, wo es in die Akustik- und Indie-Ecke war, haben wir ein bisschen Geld bei den Konzerten verdient, im Theaterbereich geht es viel mehr über Anträge. Oder vielleicht arbeitet man auch einfach etwas, womit man sein Geld verdient und macht seine künstlerische Arbeit völlig unabhängig davon. Es ist sowieso grundsätzlich die Frage, wie sehr ist das durchökonomisiert oder wie erstrebenswert ist es tatsächlich, von Kunst zu leben. Für mich ist die Frage nicht so klar mit Ja oder Nein zu beantworten.

Warum ist es für Dich so schwer, da eine eindeutige Position einzunehmen? Weil ich glaube, dass wenn Du wirklich von Deiner künstlerischen Arbeit leben möchtest, dass Du sehr viele Kompromisse machen musst, um davon gut oder halbwegs gut leben zu können. Darum ist es natürlich fragwürdig, inwieweit der ökonomische Faktor Deine künstlerische Arbeit beeinträchtigt. Und andererseits ist es schwierig, sich vorzustellen, man hat einen Beruf, wo es wirklich nur ums Geldverdienen geht und macht dann parallel dazu seine künstlerische Arbeit. Das ist natürlich auch total fragwürdig, weil man sich ja dann mit einer Arbeit identifizieren muss, mit der man sich eigentlich gar nicht verbunden fühlt und die Frage ist, wie viel Zeit bleibt eigentlich noch neben der Lohnarbeit, um sich künstlerisch zu betätigen. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns ja alle. Das sind die zwei extremen Pole und man findet oft „Mischformen“.

In Deinem Buch fällt mir sofort auf, dass sich die Formen ständig verändern, es ist sehr heterogen. Mal nimmt ein Gedicht ganz viel Platz ein, dann ist es verstreut, verläuft sich, hat verschrobene Ränder, eine große Anzahl unterschiedlicher Formen in einem Buch, das überfordert mich zum Teil auch ein bisschen. Haben diese Formen für Dich auch eine Musikalität, einen Rhythmus, ist der Gedichtband für Dich auch ein musikalisches Buch? Auf jeden Fall! Zum einen ist es für mich etwas Visuelles. Ich sehe die Sprache, ich sehe den Text als etwas Visuelles. Zum anderen ist es für mich, was die Musikalität betrifft, gar nicht möglich, Sprache oder Text jenseits von einer Rhythmik oder einer Melodie wahrzunehmen. Das würde mich wiederum völlig überfordern. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie solch ein Text wäre. Und in dem Schreiben der Texte spielt es eine sehr große Rolle, dass Inhalt und Form sich gegenseitig sehr stark bedingen und große Auswirkungen haben auf das, was man dann letztlich als Text oder als Gedicht druckt oder was man als die Version, die am ehesten „stimmt“, aufschreibt.

Wie herausfordernd ist für Dich dann die Frage nach der der Möglichkeit, Deine Gedichte vorzutragen, zu performen? Das ist für mich gerade ein Feld mit großen Fragezeichen. Zum einen sind in dem Buch Texte, die ganz klar als Sprechgedichte ausgestellt sind und wo ein Vortragen oder ein tonales Vortragen sich sehr anbieten, sie ein Stück weit auch dafür geschrieben sind. Zum anderen interessiert mich sehr die Frage, wie man diese Texte in einen Kontext bringen kann, der nicht eine klassische Lesung ist, weil ich klassische Lesungen oft ein bisschen als zu langweilig, zu elitär, zu ernst wahrgenommen habe. Es gibt bestimmt auch Lesungen, bei denen das nicht so ist und vielleicht sollte ich auch einfach mal so eine "klassische" Lesung machen. Aber mich hat sehr die Frage interessiert, wie man diese Texte mit Klang, Musik oder mit Sound in Verbindung bringen kann. Was passiert, wenn nicht der_die Autor_in dasitzt und ihren_seinen Text, der die Welt erklärt, vorliest, sondern etwas anderes passiert, wenn zum Beispiel das google-Sprachprogramm diesen Text vorliest, während man selber dazu Musik macht und eine „Entpersönlichisierung“ einsetzt. Und vielleicht kann man, nachdem man so ein paar Regeln gebrochen hat, durchaus auch mal wieder was „Klassischeres“ machen. Ich habe im Sommer zum Beispiel ein Projekt mit Lennart Melzer und Lea Danzeisen gemacht, wo wir einen Teil der Texte durch Computerstimmen lesen lassen haben und dazu Soundscapes und live improvisierte elektro-akustische Musik gemacht haben. Das haben wir wiederum in einer Garage, einer Gemeinschafts-Autowerkstatt aufgeführt - also an einem Ort, wo nie Lesungen stattfinden würden, wo man keine „Literatur“ erwarten würde. Das war ein sehr dekonstruierender Prozess, der zugleich sehr interessant war. Auch zu gucken, wie die Leute darauf reagieren und wie sich mein Verhältnis zu den Texten verändert und wie die Wechselwirkung zwischen Klang und Wort im weitesten Sinne ist.

Wie hast Du diese Performance erlebt? Ich habe mich wirklich gut damit gefühlt, dass ich nicht meine Texte vorlese. Ich habe das vorher durch die Sprachprogramme gejagt und auf Kassette aufgenommen und dann zu bestimmten Momenten der Soundperformance abgespielt. Ich fand es auch interessant, dass andere Menschen was reingeben, also es gab auch zerschnipselte Gedichte die von Lea und Lennart eingespielt wurden, wodurch ich auch wieder einen anderen Zugang zu diesen Texten gefunden habe.

Das heißt, ihr habt die Gedichte zerschnitten und dann neu zusammengewürfelt? Nein, es gab von einem Gedicht Bearbeitungen von Lennart und von Lea, die abgespielt wurden und wo es dann rhythmisch und auch von der Zeitversetzung über Repetition die Texte ganz anders wahrgenommen wurden. Auch ganz anders, als ich sie in dem Buch konzipiert habe. Oder ich habe teilweise auch Übersetzungen machen lassen von einem Übersetzungsprogramm und das dann wieder ins Original zurückübersetzt und dann die Differenz, die dabei entsteht, verwendet, weil diese Programme ja nicht perfekt sind, schon gar nicht bei Lyrik, vorgespielt. So dass man wieder keinen finalen Text hat, den der / die geniale oder ungeniale Autor_in vorträgt, sondern dass auch die Texte in den Prozess eingebunden sind und die Wörter auch Klang sind und auch eine Rhythmik haben oder dass natürlich ein bestimmter Teil der Musik auch sehr nah an Sprache wiederum sein kann. Ich empfand das als einen eigenen Erlebnisraum. Ich kann das nicht so genau beschreiben, weil ich ja Teil war, selbst performt habe. Ich hätte das vielleicht gern als Zuschauender gesehen, aber es hat mir ermöglicht, einen anderen Zugang zu meinen Texten zu finden oder einen ersten Experimentierraum zwischen Klang und Wort zu finden. Und das hat mich auch wieder offener gemacht, vielleicht doch auch klassischere Konzepte zu probieren, auch mal eine Lesung zu machen.

Neben my sister grenadine hast Du früher auch schon in vielen anderen Projekten mitgewirkt. Zum Beispiel in Deinem Akustik-Duo Kashu oder in der Band Polaroid Liquide und immer wieder fällt mir Deine Lust am Experimentieren auf. Heute wirkst Du auf mich aber noch mal offener für ein Weggehen vom reinen Musikmachen hin zur Bewegung, zum Experimentieren mit dem Körper, mit Raum, mit Sound und Worten. Bist Du auf dem Weg zu mehr Ganzheitlichkeit? Ich glaube, als ich anfing, Musik zu machen, war mir nicht so bewusst, dass das natürlich die ganze Zeit auch über den Körper stattfindet. Oder als ich ganz am Anfang auf der Bühne stand, war es mir natürlich nicht so in dem Maße bewusst, dass die Bühne so ein ganz spezieller Ort und Raum ist. Die ganze Frage von Performanz ist über die Jahre auch bei my sister grenadine viel stärker geworden. Und tatsächlich, als ich ein bisschen mehr vor einem Jahr angefangen habe, mich mit Tanz zu beschäftigen und auch Improvisationstanz selber angefangen habe, zeitgenössischen Tanz auch, war der Zugang über den Körper oder über Körpertherapie oder somatische Konzepte noch stärker im Vordergrund. Erst rückblickend ist mir bewusst geworden, dass Musikmachen auch sehr körperlich ist, auch Singen, auch Stimme, ein anderes großes Thema. Auch zu Menschen, die sich bewegen, live improvisierte Musik zu machen, ist nochmal was ganz anderes, als Lieder oder Gedichte zu schreiben, die dann in einem Buch abgedruckt werden und das Buch ist dann das Produkt in seiner Finalität und Vermarktbarkeit. In einem Moment zu einer konkreten Aktion Sound zu machen oder improvisierte Musik zu spielen und 10 Minuten später selber zu tanzen und die Wechselwirkung zwischen beidem! Nach 20 Minuten gehst Du wieder an Dein Instrument und spielst wieder, das ist tatsächlich etwas, was ich als sehr bereichernd und neu empfinde und wo ich denke, dass ich wieder am Anfang stehe. Aber ich mag die Rolle des Amateurs, ich mag die Rolle des Hochstaplers, von dem alle denken, der kann das total gut, aber der kann das eigentlich gar nicht.

Wie wichtig ist Dir dabei, dass alles, Bewegung, Musik, Text und Sound miteinander verwoben, voneinander abhängig ist? Oder ist nicht auch die Unabhängigkeit dieser verschiedenen Ausdrucksformen darstellenswert? Ich würde sagen, es ist beides. Zum einen interessieren mich die Schnittmengen oder die Wechselwirkungen und Dynamiken. Zum anderen ist es auch völlig nachvollziehbar und okay, die Bereiche für sich stehen zu lassen. Das Buch ist halt ein Buch, ein Song ist irgendwie in der Konzeption schon was Abgeschlossenes. Mich interessiert beides. Sowohl die Schnittmengen zwischen den einzelnen Formen und Medien des Ausdrucks als auch die Frage, was können sie jeweils für sich. Die verbindende Ebene bei vielen dieser Sachen ist natürlich, dass man das irgendwie auf irgendeine Art performt. Auch jemand, der nur auf der Bühne steht und sich als Musikmachende_r sieht, performt natürlich irgendwas. Daher gibt es dazu kein „Jenseits“. Oder ich schreibe den Text und Du kannst das Buch natürlich auch ohne mich lesen, aber gleichzeitig ist das auch ein Ort, wo man mich treffen kann, wo wir uns treffen können. Daher ist das vielleicht das verbindende Element. Da hat über die Jahre eine Verschiebung stattgefunden, oder das isr jeweils eine Schwerpunktsetzung. Mich interessiert ein Aspekt und dann zoome ich rein und dann gehe ich da wieder raus und gehe zu etwas anderem. Manchmal verbinden sich die Sachen, manchmal halt auch nicht. Ich schaue zum Beispiel auch viele Filme und mache auch viel Fotographie und das habe ich jetzt noch gar nicht in andere künstlerische Prozesse eingebunden, aber wer weiß, vielleicht fange ich irgendwann an, Filme zu machen. Ich kann das schwer einschätzen, dazu bin ich zu nah an mir dran. Es ist einfach interessant, das miteinander zu verbinden und es ist auch interessant, das allein sich anzuschauen.

Manchmal ist es aber vielleicht auch spannend, wenn man auf der Suche nach der Unabhängigkeit ist, dann nicht unbedingt die Brille der Lyriker_in oder Musiker_in aufzuhaben, wenn ich zum Beispiel tanze, sondern ganz andere Blickwinkel einzunehmen. Erlebst Du das auch so? Ich glaube, es findet wirklich Beides parallel statt. Ich sehe sehr oft, wenn es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen bestimmten Dingen gibt. Mich interessieren Intermedialität und Schnittmengen. Gleichzeitig ist es natürlich möglich, sich auf eine Sache zu fokussieren und da tief reinzugehen und erst mal gar nicht nach Verbindungen zu Anderem, nach Analogien oder Ähnlichkeiten zu gucken.

Welche Pläne hast Du für 2016? Was möchtest Du unbedingt machen und worauf kannst Du gut verzichten? Gerade ist es so, dass sich sehr viele Sachen, die ich in 2015 gemacht habe, konkretisieren und spruchreifer werden. Zum einen habe ich wieder Lust, Songs zu schreiben und mit Leuten an Songs zu arbeiten. Ob das jetzt my sister grenadine sein wird oder etwas anderes, muss ich noch klären. Zum anderen gibt es aus dem Umfeld von Tanz und Musikmachen zwei Projekte: das eine ist "minimal Improvisation", was zwei Musiker_innen/Tänzerinnen (Gisbert Schürig und Jennie Zimmermann) als Konzept entwickelt haben, in dem es sehr viel um die Wechselwirkung von einer relativ limitierten Menge an Bewegung und Sounds geht. Es wird Performances geben und in der Gruppe der Menschen, die das dann sowohl als Tanzende als auch als Musizierende performen, bin ich dabei. Dann gibt es das Radical Contact, das versucht, Contact Impro Tanz und politische Diskurse miteinander zu verbinden. Es gibt sein ein paar Jahren eine Community, die sich in Schweden jedes Jahr trifft. Es wird versucht, das international regelmäßig stattfinden zu lassen. Wir hatten unseren ersten Berliner Workshop vor ein paar Wochen, in dem es um Inklusion, um safer spaces, um die Infragestellung von Mainstream und Heteronormativität im Tanzbereich ging. Das ist ein Projekt, in dem ich mitarbeite, das mich sehr interessiert, wo ich sowohl konzeptionell als auch als musizierender und tanzender Mensch dabei bin. Ich habe außerdem Lust, weiterhin improvisierte elektro-akustische Musik live zu machen, zu Bewegung, vielleicht auch gern zu etwas Szenischem auf der Bühne. Das sind die Baustellen. Dann habe ich jetzt zwei Jahre von Hartz IV gelebt. Das heißt, ich werde jetzt versuchen, eine Stelle zu finden, um Geld zu verdienen, um nicht permanent vom Jobcenter abhängig zu sein. Das ist nichts Künstlerisches, aber das steht jetzt an. Dann würde mich nach wie vor sehr interessieren, Musik zu Filmen zu machen. Ich habe mit einer Dokumentarfilmerin aus Brasilien letztes Jahr schon angefangen, etwas zu machen. Zu Poet_innen, die in Berlin leben und sich mit dem Thema Heimat auseinandersetzen. Wir haben dann aber gedacht, dass man für den Dokumentarfilm, in dem sehr viele verschiedene Menschen gezeigt werden, auch einen Soundtrack machen könnte. Ich bin aber auch niemand, der sich denkt, das ist dieses Jahr, jetzt ist Silvester, jetzt kommt das nächste Jahr. Es ist eher so, dass ich sehr viel geschaut habe und sich sehr viele neue Verbindungen entwickelt haben. Überhaupt das Buch zu veröffentlichen bei secession, war für mich eine wertvolle Möglichkeit, auch mal meine Gedichte zu präsentieren und zugänglich zu machen. Auch im Bereich von improvisierter Musik und Tanz habe ich im Verlaufe der Zeit viele verschiedene Leute getroffen und so langsam kristallisieren sich Sachen raus und ich muss eher gucken, wie ich das organisiere, wie ich das priorisiere oder eben nicht. Ich habe auf jeden Fall wieder relativ viel zu tun und dann ist es fast eine organisatorische Sache: Wie kann ich alles gut unter einen Hut bekommen und gleichzeitig irgendwie auch noch Geld verdienen. Das steht nächstes Jahr an.

Ich wünsche Dir für all diese Projekte, dass Du weiterhin so eine große Lust am Experimentieren, am Prozess und Offenheit mit reinbringst. Ich freue mich über jede Deiner Performances und Inszenierungen. Vielen Dank, dass Du hier warst. Danke auch an Antonio Passacantilli von wolvesinsound an der Technik und am Mix. Ja, auch von mir vielen Dank für das Gespräch und Euer Interesse!

Das Interview führte Daniella Grimm im Tonstudio wolvesinsound in Berlin